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  • AutorenbildKatrin Streeck

Die Dame mit dem kleinen Schleier



Pierre-Auguste Renoir: Junge Frau mit einem kleinen Schleier. Epoche: Impressionismus. Öl auf Leinwand. Entstanden: ca 1875/1877. Original-Format: 61 x 51 cm. Ausgestellt im Musee d'Orsay, Paris.


Die junge Frau mit dem kleinen Schleier

Margot stieg die Stufen zu Augustes Atelier hinauf.

Es war ein kalter regnerischer Novembertag und sie hatte eigentlich keine Lust gehabt, noch zu ihm zu gehen. Er würde missbilligen, wo sie gewesen war, aber sie konnte ihn auch nicht belügen.

Auguste warf ihr ständig vor, sich mit den aufrührerischen Frauen zu treffen und fragte sie jedes Mal, ob sie wie Louise Michel enden wolle, in einer Strafkolonie in Neukaledonien.

Sie stand vor der Tür des Ateliers, atmete tief ein und klopfte. Ohne auf ein „Herein!“ zu warten, trat sie ein.

Auguste stand mit einem Glas Rotwein in der Hand mitten im Raum und sah auf seine Staffelei. Sie trat zu ihm, legte ihren Arm auf seine Schulter und sah, was er sah: sich, nackt.

„Bonjour!“, sagt sie leise und hauchte einen Kuss auf seine Wange!“

Er drehte ihr sein Gesicht zu, dann trat er zurück und sah sie an.

„Wo kommst du jetzt her?“, wollte er wissen. „Warst du wieder bei deinen verdammten Anarchistinnen?“

Er sah sie verächtlich an! Sie legte den Kopf schief:

„Was für eine herzliche Begrüßung, mein Lieber! Malst du heute noch?“

Sie hob die Arme und schlug ihren kleinen Schleier zurück. Dann zog sie eine Nadel aus dem Hut.

„Nein, warte!“, herrschte er sie an. Er stand und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Fragend sah sie ihn an.

„Nein“, wiederholte er, „ich kann an diesem Bild heute nicht weiter arbeiten“. Mit einer Kopfbewegung wies er zur Staffelei.

Sie dachte, dass er recht hatte. Wie sollte sie ihm heute Modell sitzen, sich lebenshungrig und freizügig darbieten, wenn sie gerade vom Elend der Pariserinnen hören musste, deren Männer in den Gefängnissen schmorten oder in der Verbannung waren. Die Pariser Kommune war gescheitert und hinterließ als Opfer Frauen und Kinder.

Ein Kassiber von Louise Michel hatte die Frauen der Organisation erreicht. Louise sprach den Frauen Mut zu. Sie sollten nicht aufhören, für ihre Selbstbestimmung zu kämpfen. Schwer, wenn hungrige Mäuler zu stopfen waren und der Ernährer fehlte.

Margot hatte schon verstanden, dass sie und alle diese Frauen abhängig waren. Sie hatte noch Glück. Sie war hübsch und ein berühmter Maler liebte sie. Ihr war auch klar, dass er ihre Einstellung nicht akzeptieren konnte, denn sie richtete sich genau gegen diejenigen, die seine Bilder kauften. Reiche Männer, die Mädchen wie sie auf der Straße gar nicht sehen würden. Oder nur nach ihrem Preis fragten.

Sie seufzte. Auguste war heute in schlechter Stimmung.

„Soll ich gehen?“, fragte sie.

Er füllte sich sein Rotweinglas neu und sagte:

„Nein, bleib! Ich will mit dir schlafen! Wie kann ich dir nur die Flausen aus dem Kopf treiben?“

Margot lächelte. Sie wusste, dass sie jetzt nicht anfangen durfte, sich und die Frauen zu verteidigen. Er würde sie rauswerfen.

„Gibst du mir auch ein Glas?“

Sie liebten sich auf dem Kelim vor dem Kamin.

Später aßen sie etwas Brot und Käse und öffneten noch eine Flasche. Zogen um in das schmale Bett, in dem Auguste schlief, wenn er im Atelier übernachtete.

Sie blieb bis zum Morgen. Stand auf, zog sich an. Ihren Ohrring hatte sie verloren. Vermutlich im Bett. Sie wollte Auguste nicht stören und suchte ihn nicht.

Als sie fertig war, drehte sie sich an der Tür noch einmal nach ihm um. Er lag wach und sah sie an.

Sie ging leise hinaus und schloss die Tür.

An diesem Tag fertigte er eine Zeichnung von ihr an. So, wie er sie aus der Tür gehen sah. In ihrem karierten Wollumhang, mit Hut und Schleier. Ohne Ohrring. Den hatte er auf dem Kopfkissen gefunden und fügte ihn auf der Zeichnung ein.

Später malte er Margot so in Öl. Eine traurige junge Frau, die hin- und hergerissen war zwischen den alltäglichen Nöten und Sorgen, ihrer Anteilnahme für andere und ihrer großen Liebe zu ihm, Auguste.

11.05.2020

© Katrin Streeck


Diese Geschichte ist reine Fiktion und hat nichts mit der Biografie des Malers zu tun.




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